Sabine, Jens, Lucia und Gabriel – die Geschichte einer ganz besonderen Schwangerschaft

Am Anfang war das Feuer, das Feuer zwischen meiner Frau Sabine und mir. Etwas später kam der Wunsch nach einem Baby. Er war bei meiner Frau noch ausgeprägter als bei mir. Sie fragte mich schon am Anfang unserer Beziehungen, ob ich einmal Kinder wolle und war auch froh, als ich ja sagte.

Nur Babys wollen und kriegen sind zwei Paar Schuhe. Bei uns klappte es jedenfalls nicht. "Vater werden ist nicht schwer..." – ach ja? Nach Operationen an meiner Frau (u.a. Eileiter) und Spermiogramm- Untersuchung war eigentlich alles in Ordnung aber dennoch wollte sich keine Schwangerschaft einstellen. Auch der Besuch bei der Heilpraktikerin half nicht wirklich.

Wir kauften uns einen Hund! Um den Kopf meiner Frau vom Schwangerschaftsgedanken frei zu bekommen. Das spielt nämlich auch eine Rolle. Der kleine Golden Retriever Rüde - wir nannten ihn Cosmo - hatte sofort unsere Herzen gebrochen. An unserer Liebe zu dem freundlichen, intelligenten und verschmusten Vierbeiner hat sich bis heute auch nichts geändert. Und ganz nebenbei schlich er sich auch in die Herzen meiner Eltern und Sabines Verhältnis zu ihnen wurde durch ihn plötzlich viel besser. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Zuerst der Hammer: meine Schwester wurde schwanger. Damit hatte niemand gerechnet. Sabine war am Boden und hat lange geweint. Was ist auf Familienfeiern, sie mit dickem Bauch - und ich? Schaffe ich es ihr in die Augen zu schauen? Ich will doch auch ein Baby!

Es ging noch weiter, denn kurz darauf wurde eine Freundin / Kollegin von Sabine schwanger und dann, weil das ja noch nicht genug war auch noch Sabines kleinere Schwester! Das Schicksal spielte uns einen üblen Streich und ich hatte ehrlich gesagt so meine Zweifel, ob meine Frau nicht im Kummer versinken würde. Doch während sie die Schwangerschaft der anderen anfangs nur unter Tränen betrachtete freute sie sich ehrlich mit ihrer Schwester und litt mit ihr, als am Anfang noch nicht alles so glatt lief.

Doch wieder zu uns: wie sollte es weitergehen? Das Zauberwort hieß Hormonbehandlung ! Das hört sich schlimmer an als es ist und hat - was soll ich sagen - bei uns ziemlich schnell zum Ziel geführt: Sabine mußte sich übergeben! Jetzt wurden die vorher gekauften Schwangerschaftstests hervorgekramt und sie zeigten alle das gleiche: einen kaum zu erkennenden zweiten Streifen! Da ist doch ein zweiter Streifen - oder? Schwach aber da: schwanger! Am nächsten Tag ging es gleich zum Frauenarzt (bei dem aus Frau Margraf längst Sabine geworden war und bei dem sie mittlerweile so viele Blutproben gelassen hatte um Frankenstein zum Leben zu erwecken). Dort bestätigte sich der Test und es war so, als hätten meine Stoßgebete oben einen Zuhörer gefunden. Doch was waren das für Werte? -> Überweisung ins Klinikum nach Kassel. Die Ultraschall- Untersuchung zeigte eindeutig eine Fruchtblase. Aber was ist da noch für ein kleiner dunkler Punkt? "Es könnten zwei seien aber es ist in der 5. Woche noch viel zu früh das zu sehen. Da müssen sie in ein paar Wochen noch mal kommen!" Na toll! Aber schwanger – was für eine Freude!!! Sabine bekam so ein besonderes Glänzen in ihre Augen.

Sabine hörte in der folgenden Zeit nicht auf sich mehrmals jeden Tag zu übergeben - überdurchschnittlich viel - wurde krank geschrieben und kam zweimal ins Krankenhaus deswegen. Mit der Zeit kam aber dann die Gewißheit - Zwillinge!

Und dann ... kommen die großen Gedanken. Aus dem Audi Cabrio mußte jetzt ein Passat Kombi werden. Zwei Kinder und ein Hund im Auto - na wird dann schon gehen. Doppelkinderwagen - hintereinander oder nebeneinander? Kinderzimmer, Klamotten, Windeln - alles doppelt. Einkaufen gehen – ach du...

Und was die Leute feixen: Zwillinge – hihi!

Und - andere haben das auch geschafft, dann geht das bei uns auch! Mein Kollege hat drei! Erst eins und kurz später Zwillinge hinterher. Der sagt: ein Kind wäre wie Urlaub.

Irgendwann findet man sich damit ab und freut sich darauf. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Es war an einem Donnerstag im Juni. Es war ein Feiertag und wir hatten Sportfest. Ich hatte vorher noch Handball gespielt und meldete mich dann ab, weil wir einen Termin im Klinikum Kassel zur Trennwanduntersuchung hatten - Routine. Dennis, der jüngste Sohn von Sabines großer Schwester war bei uns, und ich spielte im Wartezimmer mit ihm als meine Frau mit Tränen in den Augen und bebender Stimme in den Raum kam und mich bat, mit in den Untersuchungsraum zu kommen – "Es stimmt was nicht! Komm doch mal!"

Ein dicker Klos machte sich in meinem Hals breit und ein unbeschreibliches Gefühl der Angst ließ mein Herz klopfen, so daß ich es fast hören konnte. Als die Ungewißheit von dem Arzt aufgelöst wurde, der auch schon die 1. Untersuchung durchgeführt hatte war es ein Faustschlag in die Fresse! " Bei einem ihrer Kinder hat sich das Großhirn nicht ausgebildet, es wird nicht leben können!" Die anschließenden Ausführungen des Arztes habe ich zwar gehört aber irgendwie sind sie an mir vorbeigegangen. Paralysiert ist wohl das richtige Wort für diesen Zustand. Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit - wie beim Anschlag auf das World Trade Center in New York: das gibt‘s doch gar nicht! Doch - das gibt es, es nennt sich Anencephalie und gehört zu den Neuralrohrdefekten, zu denen auch ein offener Rücken gehört. Anencephalie - dieses Wort habe ich zum erstenmal in einem längeren Gespräch mit der Hebamme gehört. Das war ein wichtiges Gespräch und hat uns auf einige gute Ideen gebracht- aber dazu später mehr.

Als ich noch im Klinikum aus meiner Fassungslosigkeit herausgerissen wurde befand ich mich im Gang und in enger Umarmung mit meiner Frau- wir weinten bitterlich.

Aber nur kurz, denn wir hatten ja den Dennis dabei und ihm versprochen nach der Untersuchung mit ihm in die Eisdiele zu fahren. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich glaube wir haben beim Eis essen nicht viel geredet. Jeder machte sich so seine eigenen Gedanken. Fetozid - das gezielte Abtöten des nicht lebensfähigen Kindes in Sabines Bauch - hing in der Luft. Ein Eingriff - wie bei allem im Leben - mit Vor- und Nachteilen. Der Vorteil: das gesunde Kind wächst mit mehr Platz ohne die ganzen Risiken einer Zwillingsschwangerschaft auf. Der Nachteil: es ist eine Operation mit circa 16%iger Gefahr für das gesunde Kind dieses mit zu töten oder auch zu verletzen. Kann sich jemand vorstellen so eine Entscheidung zu treffen? Entweder ein Eingriff mit ca.16% Risiko für das gesunde Kind oder mehrere Monate ein Kind im Bauch austragen, welches kurz nach der Geburt sterben wird! Kann das jemand???

Da solche Eingriffe in Kassel nicht gemacht werden, schickte uns Dr. Simoens aus Kassel zu einem Spezialisten nach Köln. So blöd die Fahrt nun war, war sie für uns doch wichtig, weil sich bei der Untersuchung in der Klinik herausstellte, daß die beiden untereinander lagen. Das kranke unten. In dieser Stellung war das Risiko für das gesunde weit höher als normal, so daß uns der Arzt riet das kranke mit auszutragen. Uns fiel ein Stein vom Herzen, denn die Natur hatte uns diese schwere Entscheidung abgenommen. Die Heimfahrt aus Köln verlief weitaus lockerer als der Hinweg. Es folgten weitere Untersuchungen, u.a. eine Fruchtwasseruntersuchung, wiederum in Köln, bei der untersucht wurde ob das gesunde Kind auch wirklich gesund war! Das gemeine an der Sache war, daß dieser Test von Köln nach Hamburg geschickt wurde und wir erst am darauffolgenden Tag um 17:00 Uhr das Ergebnis telefonisch erfragen konnten.

Toller Tag! Diese Ungewißheit! Irgendwann haben wir dann angefangen Karten zu spielen um etwas zu tun zu haben. Punkt 5:00 Uhr sind wir dann zum Telefon geschlichen - Hochpannung.

Hat das andere auch noch was, ist alles aus, dann kann ich meine Frau einweisen. Die wird irre!

Dann der Anruf und die Antwort: "die Ergebnisse sind heute leider erst um 17:30 Uhr fertig, rufen Sie doch bitte nachher noch mal an!" - ach du Scheiße! 30 Minuten, die zu Stunden werden - oder was?

Wir haben dann unseren Cosmo geschnappt und sind mit ihm ins Feld gegangen. Das ist bei uns nicht weit weg. Wir hatten etwas zu tun und der Hund seinen Auslauf. Natürlich saßen wir drei um halb sechs wieder vor dem Telefon. Wählen, läuten, eine Stimme: "Kleinen Moment ich muß erst in mein Büro gehen", taps taps - was soll denn das? "Ach, hier sind die Ergebnisse – hmmm. So wie es aussieht ist alles in Ordnung!" Sabine hat aufgelegt und sich zu mir umgedreht. Dann brach alles aus mir heraus. Wir sind uns in die Arme gefallen und haben vor Freude geweint, sitzend auf dem Boden. Gesund - und ein Mädchen!

Die Zeit danach war eine Zeit der Normalisierung. Sabine hörte irgendwann auf sich tagsüber zu übergeben und fühlte sich auch besser. Sie ging trotzdem nicht mehr an die Arbeit, weil sich der Gebährmutterhals verkürzt hatte und weich geworden war. Was für andere schlimm gewesen wäre nahmen wir gelassen auf und ich schonte meine Frau soweit sie sich schonen ließ.

Ein wichtiges Gespräch war für uns auch das schon angesprochene mit der Hebamme. Wir haben über den Tod und die Zeit nach der Geburt gesprochen. Was man machen kann um ein Andenken zu bewahren. Denn das wollen wir. Das war nicht immer so. Wir wußten ja nicht, wie ein Anencephalie-Baby aussieht. Mißbildung hin und her, wenn es einem Mützchen auf hat ist es ein ganz normales Baby. Die Augen sind etwas größer. Viele Fotos sollen wir machen und Abdrücke von Händchen und Füßchen. Wir wissen ja nicht, wieviel Zeit uns mit ihm bleibt. Wir sollen vorher mit dem Pfarrer reden, wegen der Beerdigung und uns einen Sarg aussuchen, beim Bestatter. Dann sollen wir uns auch Gedanken machen über Organspende, denn früher oder später würde das beim Arzt zur Sprache kommen. Vorbereitungen für den Tod eines noch nicht einmal geborenen Kindes! Wenn mir das mal einer gesagt hätte, daß sich das mal machen müßte, ich hätte weggehört! Jetzt muß ich zuhören, was alles zu tun ist nach der Geburt, nach dem Tod. Ich bewundere nach wie vor meine Sabine, wie sie mit alledem umgeht. Ich liebe sie sehr. Ich sehe sie weinen, wenn wir über das Thema reden. Ich verkneife mir die Tränen so gut es geht, wenn andere Leute dabei sind - so zum Beispiel bei den Gesprächen mit dem Pfarrer über den Ablauf der Beerdigung. Er hat sich auch so seine Gedanken gemacht und uns beim zweiten Gespräch ein Buch mitgebracht. Es handelt von einem befreundeten Pfarrer, der sein zweijähriges Kind verloren hatte. Er hatte auch einen Zettel ausgedruckt, wie wir die Beerdigung machen könnten. Wir haben einiges gestrichen, denn wir wollten nicht singen! Und wir würden dann wahrscheinlich auch gar nichtkönnen! Er hat es verstanden.

Die Hebamme hatte mir eine Internetadresse mitgegeben: www.anencephalie-info.org

Dort sind auch Berichte von anderen Müttern, die Kinder mit diesem Defekt auf die Welt gebracht haben. Die meisten davon aus ihrem Glauben heraus, denn normalerweise wird nach Feststellung dieses Defektes die Schwangerschaft abgebrochen. Sie beschreiben in erschütternder Weise die Zeit der Schwangerschaft und auch danach. Doch jeder hat eine andere Weise damit fertig zu werden, aber aus allen Berichten kann man die Trauer herauslesen.

Es gibt auch Bilder auf dieser Seite. Alle Babies mit Mützchen auf. (Fast) ganz normale (tote) Babys.

So eine Seite tut man sich nicht an, wenn man nicht betroffen ist. Ist man es aber, ist man dankbar, daß es so etwas gibt. Dass man nicht alleine ist mit seinem Leid.

Die Leute um einen herum sind auch vorsichtig geworden. Und - wie geht es? " Gut" - sagt man dann. Was soll man denn sonst sagen. Diese Geschichte hier erzählen? Wohl kaum. Das will ja auch eigentlich gar keiner wirklich hören. Und die paar, die es wirklich interessiert, denen erzählt man zwar so einiges, aber nicht wie es in einem wirklich aussieht. Nur Begebenheiten und Erfahrungen. Neulich haben wir UNO gespielt. Sabine, ich, Sabines große Schwester und ihr Mann. Ich habe ziemlich oft verloren und normalerweise hätte ich mich schwer geärgert. Aber an diesem Tag hatte ich Erfahrungsberichte im Internet gelesen, von Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Was waren dagegen 7,41 DM ?

Im Krankenhaus:

Am Montag den 24 September nahm das Schicksal seinen Lauf. Morgens lief Sabines Fruchtwasser aus! Daß es Fruchtwasser war, wußten wir durch die rosa Streifen, die Sabines Frauenarzt ihr mitgegeben hatte falls mal so etwas passiert. "Wenn Sie blau werden ist es Fruchtwasser!". Sabine strich einen Streifen am Bein innen entlang und dann noch einen und Sie wurden blau – eindeutig. Sie fing sofort ganz schrecklich an zu weinen und ich rief nach Absprache mit Ihrem Frauenarzt den Rettungswagen. 2 endlose Minuten lang wurde ich weiterverbunden, aber nachdem ich mit dem Richtigen gesprochen hatte ging es eigentlich ziemlich schnell bis er da war. Ich packte noch ein paar Sachen ein und fuhr dann hinterher. "Fahr aber sinnig" gab mir meine Frau noch zu verstehen.

Im Klinikum angekommen wurde Sie gleich untersucht, wobei ständig mehr Fruchtwasser aus Ihr herausfloß. Der Muttermund war schon zu weit offen... 6-7cm.

Sie kam auf ein Bett und wurde schnell an mehrere Apparate gleichzeitig angeschlossen. Infusomat, Perfusor, CTG, Blutdruckmesser, hier eine Spritze, und noch eine und Thrombosesocken an ...

Und ab in den Kreissaal. Hier bekam Sabine eine Spritze für die Lungenreife. Man sagte uns wenn dieses Mittel wirke hätte das Kind bessere Überlebenschancen. Es daure aber 48 Stunden bis Sie wirke! Da war klar, 48 Stunden muß noch ausgehalten werden, dann wird alles gut. Mittwoch Morgen 10:00 Uhr muß geschafft werden! Der Tag schleppte sich in Aufregung dahin und auch diese Nacht passierte nicht viel, außer daß wir beide nicht schlafen konnten. Sie auf ihrem Bett und ich auf so einer "Geburtsinsel" – einer Bett-Sofa-Haltegriffe-Kombination.

Am nächsten Morgen kam der Oberarzt, um mit uns das weitere Vorgehen zu besprechen. "Jeder Tag ist ein Gewinn und jede Woche ein Sieg!". Wir sollten aushalten so lange es ging. Danach kam die Klinikpfarrerin, wie auch die folgenden Tage um uns Mut und Trost in dieser besonderen Zeit zuzusprechen und mit uns zu beten. Eine nette Frau, wie überhaupt alle sehr nett zu uns waren und sich sehr gut um uns kümmerten. Ob Hebammen oder Ärzte.

Ich weiß gar nicht mehr wie wir den Dienstag rumbekommen haben aber Abends um ca. 21:30 Uhr begannen die Wehen und dauerten bis um ca. 2:00 Uhr an. Als sie aufhörten fielen wir beide sofort in den Schlaf. Sabine mußte dauernd auf der Seite liegen, weil der Wehenschreiber sonst kein Signal bekam und so schmerzte Ihr Rücken Mittwoch Morgen so, daß Sie es nicht mehr aushielt. Bei der morgendlichen Visite einigten wir uns mit den Ärzten darauf, daß nur alle 2 Stunden eine halbe Stunde lang geschrieben wurde. Den Rest durfte Sie so liegen wie Sie wollte bzw. so, wie es die Kabellage an ihrem Arm zuließ. Der Tag verlief dann ruhig. Als es Abend wurde, schaute ich auf die Uhr, bis halb Zehn durch war. Puh – geschafft!

Nix geschafft... halb eins ging‘s los, bis halb 6 Uhr morgens. Sabines Schmerzen gingen mir mit an die Nieren und man kann ja nicht viel machen, außer Händchenhalten, gut Zureden und ein wenig Massage. Dämmerschlaf – Wehe – Dämmerschlaf –Wehe ... zwischendurch mal auf den Schieber zum pinkeln.

Dann waren die Wehen weg und es wurde ein wenig ruhiger. Ruhiger aber nicht weniger schmerzvoll, denn Sabine konnte nicht mehr liegen . Bei jedem CTG-Schreiben (es ging nur auf der einen Seite) litt sie. Aber auch das liegen auf dem Rücken bereitete mehr und mehr Schmerzen auch durch das zusätzliche Gewicht im Bauch. Sie hat oft geweint, die ganzen Tage über, sie könne und Sie wolle nicht mehr. Aber sie hat durchgehalten, worauf ich ungeheuer Stolz bin. Bis zum Samstag Morgen, dem 29. September 2001. Es ging alles sehr schnell...

Es traten heftige Wehen auf und es wurde noch mal nach Ihrem Muttermund geschaut, der sich mittlerweile weiter geöffnet hatte, so daß die Hebamme Gabriels Köpfchen ertasten konnte. Es breitete sich Hektik aus. Ärzte wurden informiert und Hebammen huschten herum. Sabine wurde in den OP gebracht : Kaiserschnitt. Ich durfte auch mit hin und mußte mir Gummischuhe und grüne Kleidung sowie Haube und Mundschutz anziehen. In den OP selbst durfte ich allerdings nicht, sondern mußte in einem Nebenraum warten.

Ich kann und will hier meine Gefühle gar nicht beschreiben – wahrscheinlich weil sie so nicht zu beschreiben sind! Wie wird der Gabriel am Kopf aussehen und wird es Lucia gut überstehen? Wie wird es Sabine gehen? Fragen, Ängste, Hoffnungen, Gedanken, Mann - wie lange dauert es denn noch?

Irgendwann kam dann einer mit Gabriel auf dem Arm zu mir und übergab mir meinen Sohn. Er war schon Tot! Kein Geschrei – nichts. Vollständige Ruhe - auch in mir, denn ich war ja darauf vorbereitet! Dachte ich... Auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten! Ein Wechselbad der Gefühle in mir. Zum einen den toten Sohn in den Händen zu halten und zum anderen das Ende der Ungewißheit. Jetzt war er bei mir und das war gut so. Der Mann sagte, er habe zwei Atemzüge gemacht und sei dann eingeschlafen.

Er sah so friedlich aus und so zerbrechlich. Er hatte die Augen einen Spalt weit geöffnet und nuckelte am linken Daumen. Ich habe ihn mir erst einmal ein paar Minuten lang angesehen wie er so in ein kuscheliges Handtuch gehüllt auf meinem Schoß lag. Langsam nahm ich dann das Handtuch von seinem Körper weg, um mir alles anzusehen. Arme, Beine, Zehen, Fingerchen – alles dran. In dieser Zeit kam auch die Pfarrerin Bolz, die eigentlich Urlaub hatte aber für uns extra in die Klinik kam. Er war so klein aber dennoch war alles an ihm ausgebildet. Bis auf eins!

Es hat ein paar Minuten gedauert, bis ich mich traute sein kleines Mützchen hoch zu schieben um mir seinen Kopf richtig anzusehen. Kann sich einer vorstellen, was da in einem vorgeht wenn man so etwas macht? Ich wollte es aber unbedingt sehen. Ich weiß, ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt in der Ungewißheit wie so etwas aussieht. Wie mein Sohn aussah.

Ich schob also sein winziges Mützchen weg und sah, was ich so schnell nicht vergessen werde.

Ein Babykopf ohne Schädeldecke!

Anschließend machte ich mit Hilfe der Pfarrerin ein paar Fotos und eine kurze Aufnahme mit der Videokamera. Erinnerungen! Es war ja nicht irgendein Baby, es war mein Sohn. Aber niemals wird er "Papa" zu mir sagen können. Nie mit mir lachen. Nie mit mir...

Dann kam die Oberärztin zu mir und sagte mir, daß es Sabine gut gehe und daß sich das Kinderärzteteam gerade um Lucia kümmere. Sie ließ aber auch durchblicken, daß es nicht so einfach sei bei so einem kleinen Wesen. Aber Sie hätte schon mal rumgequäkt und mit den Ärmchen gefuchtelt. Und daß ich jetzt in den Aufwachraum gehen könne um dort auf Sabine zu warten. Etwas später wurde Sie dann hereingefahren und wieder an ein Gerät angeschlossen. Ich wartete noch etwas, bis Sie ein wenig klarer war und zeigte Ihr dann unseren Sohn Gabriel. Sie lächelte!

Irgendwann kam dann ein Mann herein, faßte mich an die Schulter und sagte mir mit leiser Stimme. "Herr Margraf, ich muß ihnen leider sagen, daß ihre Tochter es nicht geschafft hat."

Dann drehte sich plötzlich alles und ich mußte mich erst mal setzen. Ich versuchte krampfhaft einen Punkt am Boden zu fixieren. Es gelang mir nicht. Alles drehte sich in meinem sonst völlig leeren Kopf. Verwirrung, Unglaube, Glaube. Herzrasen. Sabine hat mitgekriegt, daß etwas nicht stimmte und fragte sofort nach Lucia und der Mann teilte es auch Ihr mit. Ich dachte, daß Sie anfangen würde laut zu schreien, oder in Ohnmacht zu fallen oder den Verstand zu verlieren. Meine eigene Trauer war weg und wich der Angst um meine Frau. Ich gab Gabriel an die Pfarrerin ab und ging sofort zu Ihr um Sie zu beruhigen. Seltsamerweise war Sie ganz schnell nach dem ersten Weinkrampf wieder ganz ruhig und sagte zu mir : "Wir müssen jetzt stark sein!" Ich holte tief Luft angesichts der Reaktion meiner Frau, und dicke Tränen rollten über unser beider Wangen. Wir weinten hemmungslos bis sie Lucia hereinbrachten. Sie hatten 55 Minuten um Ihr Leben gekämpft und alles Menschenmögliche für sie getan – umsonst!

Wieder fehlen mir die Worte meine Gefühle angesichts dieses kleinen Menschenwesens auszudrücken. Ich hatte das Gefühl in ihrem kleinen Gesichtchen noch die Spuren Ihres kurzen Kampfes um ihr Leben zu sehen. Sie hatte den Inkubationsschlauch noch in der Nase, der von einem kleinen Pflaster gehalten wurde. Sabine sah sie an und lächelte und sagte nur: "Wunderschön!".

Dann durften wir sie abwechselnd halten, mußten aber dann den Raum verlassen und die Kinder zu Untersuchungen abgeben ( mit unserer Einwilligung ). Sabine wurde wieder in das Zimmer im Kreissaal gebracht. Dort haben wir uns erst einmal gegenseitig Trost zugesprochen, viel geweint und uns gefragt, wie es denn jetzt weitergehen soll. Nach der Beerdigung der beiden wegfahren, irgendwohin. Mit Cosmo.

Wir waren uns einig: Gott wollte nicht, daß wir ein behindertes Kind bekommen. Deshalb hat er sie gleich zu sich geholt. Er hat es für uns getan und auch für Lucia. Dieser Glaube hat uns an diesem Tag vor dem "Abdrehen" bewahrt.

Ich habe Sabines große Schwester angerufen, die sie jetzt sehen wollte und meine Eltern informiert. Beide waren hörbar geschockt und jedesmal kippte meine Stimme beim telefonieren. Als Christiane und Thomas kamen hatten wir uns gerade einigermaßen gefangen doch dann ging‘s wieder los. Kurze Zeit später kamen meine Eltern auch noch. Es hatte sie Zuhause nicht gehalten. Zu sechst ergingen wir uns dann in Trauer wobei wenig gesprochen wurde. Alle waren fassungslos – es hat nicht sollen sein! Alle Freude – alle Hoffnung, alles weg! Und das Kinderzimmer war doch schon fertig!

Nebenan in den anderen Zimmern bekamen Frauen ihre Babies, man konnte ihre Schreie hören.

Und die Schreie ihrer Babies! Etwa eine halbe Stunde nachdem meine Eltern gegangen waren wurden unsere Kinder noch einmal zu uns gebracht und wir durften Abschied von ihnen nehmen. Ich habe dann noch einmal ein paar Bilder gemacht. Besonders von Lucia, da ich ja bei Gabriel genug Zeit beim OP hatte.

Fotografieren Sie mal ihre weinende Frau mit ihren toten Zwillingen in den Armen!

Von der Kinderkrankenschwester wurden wir dann gefragt, ob wir sie zur Obduktion freigeben würden, da sie gerne wissen wollten warum Sie Lucia keine Luft in die Lunge pumpen konnten. Daran sei sie gestorben und sie wüßten gerne warum es nicht ging.

Das wüßte ich auch gerne!

Wir haben eingewilligt. Vielleicht ergeben sich ja wichtige Erkenntnisse, die irgendeinem Baby mal helfen könnten zu überleben und dann den Eltern so ein Elend und diesen Schmerz zu ersparen.

Endlich wurde Sabine dann verlegt. Vom Erdgeschoß in den dritten Stock. Einzelzimmer. In dem Moment ein Raum jenseits der Realität, in dem der Fernseher Ablenkung verschafft. Wenigstens ein bißchen vom Schmerz im Herzen, und bei Sabine noch zusätzlich von dem im Bauch nach dem Schnitt. Wir haben nicht viel geredet, außer unseren Liebesbezeugungen. "Liebst Du mich jetzt noch?" hat Sie einmal gefragt. "Ja" habe ich gesagt "noch mehr als vorher" Daran hat eben keiner Schuld. Gott hat beide zu sich geholt! Warum auch immer.

Abends bin ich dann heimgefahren, nachdem ich die ganze Woche im Kreissaal geschlafen hatte um im eigenen Bett zu schlafen (schlafen?). Am Ortseingang fing ich wieder an zu weinen. Was wird werden, wie soll man den Leuten gegenübertreten? Wie werden sie sich uns gegenüber verhalten ? Werden einige kondolieren und fange ich dann wieder an zu weinen? An diesem Tag war die Hochzeit eines Freundes und wir hofften beide, daß wir ihnen die Stimmung nicht versaut haben. Das täte uns Leid aber wir können ja auch nichts dafür. Wir wären lieber dort gewesen und hätten mit ihnen gelacht und gefeiert.

Wie gehe ich zum normalen Leben über und wann? Ein Herz, daß solche Trauer trägt wiegt 30kg. Ein solch schweres Herz neigt sehr schnell zum weinen und man kann nur hoffen, daß es seinen Besitzer nicht irgendwann in ein schwarzes Loch hinabreißt aus dem er nicht mehr herauskommt !

In Erinnerung an Lucia und Gabriel...

Jens Margraf

Oktober 2001